Einzigartiges Beispiel urbaner Wohnkultur

Poschiavo besitzt eines der besterhaltenen Ortsbilder der Schweiz. Das architektonische Erbe birgt Schätze aus verschiedenen Zeitepochen. Dominant ist der Einschlag aus dem 19. Jahrhundert. Am Südende des Städtchens liegen die Palazzi: ein in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandener Strassenzug, an dem sich auf der einen Seite elegante Bürgerhäuser im damals modischen eklektischen Stil reihen. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite breiten sich die Gärten mit lauschigen Pavillons aus. Das Gebäudeensemble ist Ausdruck der gesunden und neuartigen Wohnkultur der Zeit.
Das Viertel ist ein Werk des damaligen Podestà (Bürgermeister) Tommaso Lardelli und des von lokalen Kaufleuten berufenen, aus Vicenza (Venetien) stammenden Architekten Giovanni Sottovia. Die Auftraggeber waren meist aus dem Ausland zurückgekehrte, protestantische Puschlaver Familien, welche in verschiedenen europäischen Städten, vor allem in Spanien, renommierte Kaffeehäuser und Confiserien betrieben hatten.
Die Palazzi sind ein im Alpenraum einzigartiges Beispiel urbaner Wohnkultur. Sie sind sowohl im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS) als auch in der Liste historischer Gärten und Anlagen der Schweiz (ICOMOS) aufgeführt. Fast alle Gebäude stehen unter dem Schutz des Kantons und der Eidgenossenschaft.

Vom Vorplatz zur Transitstrasse

Als fester Bestandteil des Ensembles eher als Vorplatz entworfen war die Via di Palazz bis ins 20. Jahrhundert beidseitig durch Ketten abgegrenzt und diente bis in die 1950er-Jahre lediglich als Privatstrasse. In der Folge wurde sie der Gemeinde abgetreten. Als Gegenleistung wurde die Strasse gepflastert.
Seither ist sie allmählich zu einer Durchfahrtstrasse geworden, welche heute mehrere öffentliche Anstalten (Altersheim, Berufsschule, Badeanstalt, Spital und Spitex, Primar- und Sekundarschule), die Ortschaft Cologna und die dazwischen liegenden, ständig wachsenden Wohngebiete erschliesst.

Wachsender Verkehr

Der Verkehr – auch der Schwerverkehr – nimmt ständig zu. Dazu tragen neben den wachsenden Wohngebieten die zunehmenden Dienstleistungen der öffenlichen Anstalten sowie die wachsende Anzahl Fahrzeuge pro Kopf bei: wenn noch vor wenigen Jahrzehnten bestenfalls ein Fahrzeug pro Haushalt die Regel war, so ist es heute ein Mehrfaches davon.
Zudem werden Fahrzeuge und Lastwagen heute immer grösser und schwerer. Die Einhaltung der schon beträchtlichen 28t-Limite ist schwer zu überprüfen.

Einbahnstrasse und Tempolimit 30

Um dem wachsenden Verkehr entgegen zu wirken und um den Verkehrsfluss zu verbessern, wurde die Via di Palazz von der Gemeinde 1993 in eine Einbahnstrasse umgewandelt. 2005 wurde ein Tempolimit von 30km/h eingeführt. Für den Schwerverkehr bleibt die Strasse jedoch in beide Richtungen befahrbar: Verkehrsstaus und Sachschäden sind deshalb nicht selten.
In den letzten Jahren wurde beispielsweide ein- und derselbe Balkon dreimal von vorbei fahrenden Lastwagen mitgerissen und stark beschädigt. Trotz Tempolimit lädt die gerade Strassenführung zu Geschwindigkeitsüberschreitungen ein – auch durch Schwertransporte, welche in der jüngeren Vergangenheit auch zu Unfällen und Beschädigungen der Häuserfassaden geführt haben.

Benachteiligte Fussgänger, beeinträchtigte Besucher

Für Fussgänger (ob Kinder, Erwachsene oder Menschen mit Handicap) und für die zahlreichen Besucher (ob einzeln oder in Gruppen) ist das Quartier schwer begehbar geworden, vor allem während den Stosszeiten, da sie keine andere Wahl haben, als sich auf dem Strassenfeld aufzuhalten.
Die Trottoirs (übrigens im Privatbesitz) sind zu schmal und durch die Treppenaufgänge unterbrochen. Die Palazzi büssen damit viel an touristischer Attraktivität ein.

Bausubstanz in schleichendem Verfall

Die durch den Verkehr (insbesondere durch den Schwerverkehr) verursachten Schwingungen und Stösse, denen die Häuser ständig ausgesetzt sind, sind der Stabilität und der Erhaltung der Gebäude äusserst abträglich. Die Geschwindigkeit, die Reibung auf dem Kopfsteinpflaster, die durch Unebenheiten und Dellen verursachten Stösse sowie die dem Kopfsteinpflaster unterlegte Asphaltschicht verstärken die negative Wirkung.
Auch die erst kürzlich einer Renovation unterzogenen Gebäude (übrigens durch die öffentliche Hand mitfinanziert) weisen schon verfrühte Anzeichen des Verfalls auf (Abbröckeln des Stucks, Risse, untergründige Ablösung des Verputzes). Der endgültige Zerfall steht zwar nicht unmittelbar bevor, er ist aber vorprogrammiert, wenn nicht in Kürze eine drastische Verkehrsberuhigung herbeigeführt wird.

Dringender Handlungsbedarf

Die Anwohner haben die zuständigen Behörden in den letzten Jahrzehnten mehrfach zur Ergreifung von Massnhamen angerufen. Obwohl sich die Gemeinde der Bedeutung des Palazzi-Viertels als Kulturdenkmal nationaler Bedeutung durchaus bewusst ist und das Verkehrsproblem erkennt, sind bisher keine bedeutende Vorkehrungen zu dessen Schutz ergirffen worden.
Jeder Lösungsansatz zum Palazzi-Problem birgt auch gewisse Schwierigkeiten, doch je länger man mit deren Entwicklung und Verwirklichung zuwarten wird (und je mehr das umliegende Land durch Neubauten beansprucht wird), umso schwieriger wird es sein, das Problem zu bewältigen.

Lösungsansätze

Eine Lösung des Problems ist deshalb dringend und zwingend. Die Gemeinde- (und kantonalen) Behörden werden deshalb aufgerufen, im Rahmen der Ortsplanungsrevision und deren Umsetzung den Durchgangsverkehr von der Via di Palazz künftig über andere, möglicherweise neue Erschliessungsstrassen zu führen.
In der Zwischenzeit müssen vorübergehende Beruhigungsmassnahmen ergriffen werden, bevor die historische Substanz des Viertels (trotz Renovations- und Unterhaltsarbeiten) weiter zerfällt.

Provisorische Massnahmen

Der Bau des “Centro medico” – eine bedeutende Erweiterung der Spitalstruktur – steht kurz vor der Ausführung. Die Qualität und Notwendigkeit des Projektes stehen nicht zur Diskussion und werden allgemein anerkannt. Das Areal ist jedoch gegenwärtig nur über die Via di Palazz erschlossen. Der zusätzliche, neue Werkverkehr wird das Viertel noch mehr belasten. Nach Ende der Bauarbeiten ist mit einer Verkehrszunahme zu rechnen, welche das Viertel dauerhaft belasten wird. Um dieser Gefahr und den absehbaren Schäden vorzubeugen, müssen dringende Massnahmen zur Umleitung des Werkverkehrs (und des allgemeinen Schwerverkehrs) über eine alternative temporäre Baustellenerschliessung ergriffen werden.
Dabei sollen auch die Erstellung von sogenannten Baupisten und die vorübergehende Verbreiterung, Aufschüttung und Festigung von bestehenden Wegen in Betracht gezogen werden. Derartige Massnahmen sind in vergleichbaren Fällen üblich. Die Ausgaben für deren Ergreifung fallen im Vergleich zum (möglicherweise irreversiblen) Schaden, welche die historische Substanz der Palazzi sonst erleiden würde, und im Vergleich zu den Reparaturkosten wohl bescheiden aus. Jedenfalls sind sie angesichts des auf dem Spiel stehenden Kulturgutes verhältnismässig. Zur Verkehrsberuhigung wäre im übrigen eine Geschwindigkeitsreduktion auf 20 km/h mehr als wünschbar. Solche Tempolimiten sind in vergleichbaren Zusammenhängen durchaus üblich.

Petition

Am 21. Juni 2021 fand ein konstruktives Gespräch mit der Gemeinde Poschiavo und dem Centro Sanitaro Valposchiavo statt.

Gleichzeitig wurde die Petition “Die Palazzi – Schützen wir ein gemeinsames Gut” lanciert. Die Unterschriftensammlung wurde von zwei wichtigen, in der Denkmalpflege tätigen Institutionen (Heimatschutz und Domus Antiqua Helvetica) unterstützt, und dauerte bis Mitte August.

Am 15. September 2021 überreichten die Initianten die 1’114 Unterschriften dem Podestà von Poschiavo.

Der Anfang eines Austausches

Neben den örtlichen Medien hat die Frage des Verkehrs durch das Palazzi-Viertel die Aufmerksamkeit des Amtes für Denkmalpflege Graubünden erweckt, wie auch das interesse einer renommierten deutschen Zeitung (Die Zeit, no. 30 vom 20. Juli 2021) und des Regionaljournals von Radio SRF vom 23. Juli 2021 hervorgerufen.

In einem, in einer Lokalzeitung publizierten Interview hat sich zudem der Direktor von Valposchiavo Turismo zur Sache geäussert.

Es gab auch kritische Stimmen zur Petition. Sie haben zu einer bedeutenden Diskussion in der Bevölkerung beigetragen. Es ist zu hoffen, dass diese Auseinandersetzung mit dem Thema auch auf der politischen Ebene andauren wird.